21. Oktober 2022 - Rafael Lutz

Finger weg von den Atomknöpfen

Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende. John F. Kennedy

Unlängst bin ich über einen Satz gestolpert, der mich seither nicht mehr loslässt: «Wer den Atomkrieg verhindern will, muss in der Lage sein, ihn zu führen.»

Das sind die Worte von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer. In seinem Leitartikel vom vergangenen Samstag plädiert der Journalist für mehr Aufrüstung und Abschreckung.

Weiter Gujer: «Nur wer über die notwendigen Mittel und den politischen Willen verfügt, kann dem Gegner glaubhaft machen, dass er im Extremfall zur Eskalation bereit ist. Das ist das Wesen der Abschreckung.»

Die Abschreckung ist gemäss Gujer heute wichtiger denn je: Ohne Atomwaffen gibt es in den Augen des NZZ-Journalisten keine Sicherheit in Europa. «Eine glaubwürdige Abschreckung ist deshalb auch heute das beste Mittel, um den Einsatz von Atomwaffen zu unterbinden.»

Das Problem in Gujers Augen: «Der Westen insgesamt und besonders die Europäer haben seit dem Ende des Kalten Kriegs möglichst jeden Gedanken an das Unaussprechliche gemieden.» Der NZZ-Chefredaktor zeigt sich enttäuscht, dass Politiker und Bürger das Thema der «atomaren Abschreckung weit von sich geschoben» hätten.

Die Worte des NZZ-Journalisten sind das eine; diese Meinung darf er haben. Doch das Tragische ist: «Die Sprache bereitet den Krieg vor», wie es der Journalist Andreas Elten schon vor Jahren schrieb. Und genau das sehen wir gegenwärtig in Echtzeit.

Die Logik ist einfach: Wir rüsten auf bis zum Gehtnichtmehr, um die Welt vor dem Schlimmsten zu bewahren. Genau das beobachten wir jetzt. Die NATO übt gerade den Atomkrieg; zugleich wird auf beiden Seiten weiter aufgerüstet. Und immer mehr Staaten werden in den Krieg hineingezogen. Man denke nur an die jüngsten Pläne der EU-Aussenminister.

Sie haben gestern beschlossen, eine Ausbildungsmission für rund 15’000 ukrainische Soldaten ins Leben zu rufen. Das Training mit dem offiziellen Namen «Militärische Unterstützungsmission der Europäischen Mission für die Ukraine» (EUMAM UA) soll in der zweiten Novemberhälfte beginnen.

Zurück zu Gujer. Man fragt sich als Leser: Schreibt hier eigentlich noch ein Journalist oder das Sprachrohr der westlichen Machteliten respektive der NATO?

Gujer selbst nannte einmal Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky als prägende Autoren, die ihn beeinflusst hätten. Doch von dem pazifistischen Geist der Genannten ist bei ihm nicht mehr viel übriggeblieben.

Fasziniert ist er heute vielmehr von der Welt der Geheimdienste und dem Kampf gegen Schurken im Osten. 2006 publizierte er ein Buch über den deutschen Bundesnachrichtendienst: «Kampf an neuen Fronten. Wie sich der BND dem Terrorismus stellt». Als Journalist verteidigte er 2015/2016 in der Schweiz auch das Geheimdienstgesetz, das dem Nachrichtendienst heute noch deutlich mehr Macht gewährt.

Dass Gujer zudem den transatlantischen und NATO-nahen Organisationen nahe steht, ist kein Geheimnis. 2010 schrieb der NZZ-Journalist an einem Buch über den Kampf gegen den Terror mit, das Gary J. Schmitt herausgab. Schmitt ist ehemaliger Direktor des Project for the New American Century (PNAC), einer Organisation, die einst von führenden Neokonservativen wie Dick Cheney gegründet worden war. Heute ist Schmitt Senior Fellow des American Enterprise Institute.

Ähnlich wie die US-Neokonservativen blickt Gujer auf den Krieg in der Ukraine. Und dies nicht erst seit gestern. Sein Bild auf den Ukrainekonflikt war immer schon sehr einseitig: Der Feind sitzt in seinen Augen einzig im Osten.

Am 22. Februar 2014, dem Tag, als Viktor Janukowitsch mit Unterstützung der US-Administration gestürzt wurde, schrieb Gujer: «Die Eskalation in dieser Woche geht auf das Konto des Regimes Janukowitschs und radikaler Demonstranten, die Brandstifter aber sitzen in Moskau.»

Kritik an den US-Machteliten findet man bei Gujer nicht. Schlimmer noch: Wer diese mächtigen Akteure ins Visier nimmt, stösst bei dem NZZ-Journalisten auf Entrüstung. Mehr noch, der ist in seinen Augen ein «Verräter». Mit diesem Wort bezeichnete der NZZ-Chefredaktor zum Beispiel Whistleblower Edward Snowden, also genau den Mann, der die Weltöffentlichkeit über den globalen US-Überwachungsapparat aufklärte.

Die bellizistische Sprache des starken Mannes der NZZ ist gerade vor der aktuellen geopolitischen Lage umso bedenklicher und besorgniserregender. «Die Sprache ist niemals unschuldig, die Worte besitzen ein zweites Gedächtnis von Erinnerungen», lautete ein Aphorismus des französischen Schriftstellers Roland Barthes.

Gerade heute ist es höchste Zeit, die Rhetorik runterzufahren; in einer Zeit, in der Politiker und Medienschaffende Angst haben, dass die Bevölkerung kriegsmüde wird. – Wo sind wir eigentlich angekommen?

«Das Überleben der Welt hängt von Besonnenheit, Diplomatie und Kompromissen auf allen Seiten ab», schrieb der US-Ökonom Jeffrey Sachs kürzlich. Das sollte auch der NZZ klar sein. Es braucht nicht noch mehr Eskalation und Aufrüstung, sondern mehr Abrüstung und gegenseitiges Verständnis.

Herzlich

Rafael Lutz

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