06. Oktober 2022 - Konstantin Demeter

Wird einer den Atomknopf drücken?

Solange ein Staat Atomwaffen besitzt, werden andere sie haben wollen. Solange es solche Waffen gibt, ist es unglaubwürdig, dass sie nicht eines Tages eingesetzt werden, sei es durch Unfall, Fehlkalkulation oder Absicht. Bericht der Internationalen Kommission für nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung

Als Jugendlicher war ich mit meinem Vater über vieles uneinig, darunter die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges in Europa. Unkritisch gegenüber dem Polit- und Wirtschaftssystem, schloss er einen solchen in den 1980-er Jahren mit fester Überzeugung aus. Ich war wesentlich skeptischer. Schon wenige Jahre später, bei den Balkankriegen, behielt ich leider Recht. Nun ein weiteres Mal. De facto stehen sich sogar zwei nukleare Supermächte gegenüber. Doch wie gross ist die Gefahr, dass der Konflikt in der Ukraine zu einem Atomkrieg eskaliert?

Die Ereignisse überschlagen sich derzeit: Sprengung der beiden Nord-Stream-Pipelines, Teilmobilmachung in Russland und Angliederung von vier ostukrainischen Regionen an Russland. Letzteres bedeutet, dass Russland nun Angriffe auf diese Regionen als Attacken aufs eigene Land betrachtet – und entsprechend reagieren könnte.

Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive rief denn auch der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, Russland dazu auf, Atomwaffen einzusetzen. Der Kreml distanzierte sich davon. Allerdings deutete Wladimir Putin in seiner letzten Rede an, dass sich Russland diese Option offenhält.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte mit «ernsthaften Konsequenzen», sollte Russland Atomwaffen einsetzen. Und der ehemalige CIA-Direktor und US-General David Petraeus drohte, die USA würden in diesem Fall Russlands Truppen vernichten. Gemäss dem US-amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald ist die Gefahr einer nuklearen Konfrontation «sehr real».

Der russische Präsident bot in seiner Rede auch Verhandlungen an, um den Krieg zu beenden – wobei er der Ukraine mit dem Angliedern von vier Regionen die wichtigste Währung für Verhandlungen aus der Hand genommen hat. Und er war sich bewusst, dass das Angebot abgelehnt werden würde. Dies tat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch sogleich, und forderte eine beschleunigte Aufnahme seines Landes in die NATO – was eine weitere Eskalation bedeuten würde.

General Richard Barrons, ehemaliger britischer Generalstabschef, ist der Ansicht, dass Putin bei einer strategischen Niederlage in der Ukraine «nuklear vorgehen» könnte. Damit meinte er den Einsatz kleiner TNWs (taktische Atomwaffen), die Gebiete jenseits der ukrainischen Grenzen nicht physisch beeinträchtigen würden.

Laut Oberst a.D. Dorcha Lee, ehemaliger irischer Militärberater in Brüssel und ehemaliger Militärvertreter bei der Westeuropäischen Union (WEU) und der EU, wird der Unterschied zwischen TNWs und strategischen Atomwaffen oft so begründet: TNWs sind darauf ausgelegt, eine Schlacht zu gewinnen, während strategische Atomwaffen einen Krieg entscheiden sollen – mit einem Pyrrhussieg, würde ich anfügen. Zudem kann auch der Einsatz von TNWs zu einer weiteren Eskalation führen.

Falls die russische Artillerie die ukrainische Gegenoffensive nicht brechen kann, bleiben den Russen laut Lee nur drei Möglichkeiten: Sie können sich verschanzen und auf eine erfolgreiche Verteidigung hoffen; sie können Cherson aufgeben und einen riskanten Rückzug über den Dnjepr antreten; oder sie können ein oder zwei TNWs einsetzen, um den ukrainischen Angriff zu brechen.

Während des Kalten Krieges verpflichteten sich die USA und die Sowjetunion mit dem MAD-Konzept (Mutually Assured Destruction), keine Atomwaffen als erste einzusetzen – im Wissen, dass die Gegenseite reagieren und die Zerstörung auf beiden Seiten stattfinden würde. Für den Fall eines konventionellen sowjetischen Angriffs auf Westeuropa plante die NATO damals den Einsatz von TNWs. Die Sowjetunion konterte diese Drohung mit der Erklärung, dass jeder Einsatz von Kernwaffen – auch taktischen – gegen sowjetische Streitkräfte einen umfassenden sowjetischen Vergeltungsschlag zur Folge haben würde. Somit war klar: Nuklearwaffen dürfen nicht eingesetzt werden.

Wie würden die USA auf einen russischen Angriff mit TNWs in der Ukraine reagieren? Laut Lee ähnelt hier die Politik der USA sehr jener bei einem chinesischen Angriff oder einer Invasion auf Taiwan. Beide Szenarien würden eine undefinierte «überwältigende Antwort» hervorrufen. Lee kritisiert diese «strategische Ambiguität». Die USA hätten ihren politischen Willen verloren, rote Linien festzulegen. Das sei ein Signal der Schwäche und Unentschlossenheit an Putin. Doch falls es eine rote Linie gäbe, was würde geschehen, sollte Russland sie überschreiten?

Die Aussichten stehen momentan nicht gut: Russland wird sich nicht freiwillig aus den eroberten Gebieten zurückziehen, und die Ukraine und ihre Alliierten sind zu keinerlei Konzessionen bereit. Dabei böten nur sie die Möglichkeit, den Krieg zu beenden, wie zum Beispiel auch Henry Kissinger erkannt hat – der nicht unbedingt als eine Friedenstaube gilt. Da jedoch alles darauf hindeutet, dass die transatlantischen Mächte diesen Krieg wollten und wollen, ist gegenwärtig nicht mit irgendwelchen Zugeständnissen zu rechnen.

Die unterschiedliche Wahrnehmung von Atomwaffen sei ohnehin der Hauptgrund für die Ukraine-Krise, meint Sergej Poletaev, Mitbegründer und Herausgeber von Vatfor Project. Deswegen könnten Russland und der Westen auch «keine gemeinsame Basis finden, um zumindest zu versuchen, eine Art von Vereinbarung anzustossen».

Der Westen betrachte diese Massenvernichtungswaffen eher als ein «Relikt der Vergangenheit denn als relevanten Faktor in den heutigen internationalen Beziehungen». Russland hingegen sehe sie als Grundlage seiner Souveränität und sei stets davon ausgegangen, dank seiner Nuklearmacht auch als wirtschaftlicher Zwerg aussenpolitische Bedeutung beanspruchen zu können.

Indem der Kreml den Einsatz von Atomwaffen nicht ausschliesst, will er Poletaev zufolge dem Westen klarmachen, dass ein nukleares Szenario umso näher rückt, je mehr er in diesen konventionellen Konflikt hineingezogen wird. Und dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben könne.

Bleibt also nur zu hoffen, dass es unter den Entscheidungsträgern auch vernünftige Menschen gibt, die auf eine Deeskalation hinarbeiten, und dass ein «intellektuell herausgeforderter» Joe Biden den Atomkoffer nicht mit seinem Smartphone verwechselt.

Herzlich

Konstantin Demeter

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