04. September 2022 - Konstantin Demeter

Verwurstete Wissenschaft

Es ist der eigentümliche und immerwährende Irrtum des menschlichen Verstandes, dass er durch das Positive mehr bewegt und begeistert wird als durch das Negative. Francis Bacon

Proxima Centauri ist der sonnennächste Stern, 4,2 Lichtjahre von uns entfernt. Ende Juli veröffentlichte der Physiker und Direktor der französischen Kommission für alternative Energien und Atomenergie, Étienne Klein, auf Twitter angeblich ein Bild davon. Es sei vom James-Webb-Weltraumteleskop aufgenommen worden, teilte er mit. Das neue Teleskop hatte am 12. Juli offiziell den wissenschaftlichen Betrieb aufgenommen. Der Beitrag wurde von Tausenden von Nutzern geteilt und gelobt. Einer pries den «Detailreichtum» an. «Jeden Tag wird eine neue Welt enthüllt», fügte er an.

Dumm nur, dass die Welt in diesem Fall nicht neu und sehr klein ist, denn es handelte sich um die Aufnahme einer Wurst, genauer: einer Scheibe Chorizo. Klein entschuldigte sich dafür und erklärte, er habe mit diesem Scherz darauf aufmerksam machen wollen, dass man sich «vor den Argumenten von Autoritätspersonen» ebenso in Acht nehmen sollte wie vor der «spontanen Eloquenz bestimmter Bilder». Weil das viele Menschen nicht tun, war die Wurst zumindest um die Welt gegangen, wenn auch nicht ins Weltall.

Autoritäten in Frage zu stellen und Fehler zu erkennen ist umso schwieriger, wenn es sich nicht um einen Scherz handelt, sondern um Betrug – sogar für Wissenschaftler. So stellte sich zum Beispiel heraus, dass die Bilder einer führenden Alzheimer-Studie möglicherweise manipuliert wurden (wir berichteten).

Allein in der biomedizinischen Forschung seien im Jahr 2017 schätzungsweise 2 Milliarden Dollar durch Arbeiten verloren gegangen, die aufgrund von gefälschten Bildern zurückgezogen wurden, schreibt der Wissenschaftsjournalist Vishwam Sankaran in The Next Web. Jetzt würden sich immer mehr Forscher der künstlichen Intelligenz zuwenden, um betrügerische Wissenschaftler zu ertappen, und «hoffentlich dieses jahrzehntealte Problem lösen».

Die Plage der Bildfälschung in akademischen Forschungsarbeiten ist laut Sankaran weitverbreitet. So untersuchte zum Beispiel eine Arbeit aus Stanford 20’000 Studien und kam zum Schluss, dass etwa 2 Prozent aller Arbeiten aufgrund von Bildfälschungen zurückgezogen werden sollten.

Das Problem betrifft jedoch nicht nur die Bilder, sondern auch die Texte der Studien. Wie einfach es ist, fehlerhafte Studien zu veröffentlichen, bewies der Wissenschaftsreporter John Bohannon. Im Jahr 2013 reichte er in Zusammenarbeit mit der renommierten Zeitschrift Science eine zutiefst fehlerhafte Arbeit über die krebsbekämpfenden Eigenschaften einer aus Flechten gewonnenen Chemikalie bei 340 Zeitschriften ein. 60 Prozent davon nahmen die Studie an.

Bei den angefragten Publikationen handelte es sich um sogenannte «räuberische Open-Access-Herausgeber», auch «Raubverlage» genannt. Deren Anzahl ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das sind gewinnorientierte Online-Zeitschriften, die den Druck unerfahrener Forscher ausnutzen, ihre Arbeit in einem, oberflächlich betrachtet, legitimen Medium veröffentlichen zu wollen. So konnte Bohannon durch die IP-Adressen herausfinden, dass die Zeitschriften, die seine Arbeit annahmen, überproportional häufig in Indien und Nigeria ansässig waren.

Wie Bohannon erläutert, hätte man beim Journal of Natural Pharmaceuticals eine glaubwürdige Peer-Review erwarten können. Denn es beschreibt sich selbst als «eine von Experten begutachtete Zeitschrift, die darauf abzielt, qualitativ hochwertige Forschungsartikel, Kurzmitteilungen und Rezensionen auf dem Gebiet der Naturstoffe mit gewünschten pharmakologischen Wirkungen zu veröffentlichen». Die Redakteure und Beiratsmitglieder sind Professoren der pharmazeutischen Wissenschaften an Universitäten in aller Welt.

Tom Spears, Reporter des Ottawa Citizen, ging noch einen Schritt weiter. Er reichte eine plagiierte, völlig unzusammenhängende und absurde Studie über Böden, Krebsbehandlung und den Mars ein. Das Resultat: 8 der 18 angefragten wissenschaftlichen Fachzeitschriften wollten ihn veröffentlichen.

Nicht nur solche «Raubverlage» veröffentlichen jedoch fehlerhafte Studien. Das tun auch renommierte Zeitschriften wie Science und The Lancet, wenn auch nicht solch – eigentlich – offensichtliche Fälschungen. Sie verfallen unter anderem regelmässig der Versuchung, angeblich sensationelle Studien zu veröffentlichen – wobei sie es mit der Wissenschaft nicht so genau nehmen. Wenn sie später zurückgezogen werden, wird das nicht herausposaunt, ähnlich wie bei den Mainstream-Medien. Die Webseite Retraction Watch erfasst jedoch die zurückgezogenen Studien.

Fazit: Man sollte keine blinde Ehrfurcht vor renommierten Wissenschaftlern und Herausgebern haben, denn es sind auch nur Menschen, mit all ihren Tugenden und Fehlern. Und dass man sich vor «Räubern» in Acht nehmen muss, versteht sich von selbst.

Herzlich

Konstantin Demeter

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