Um Missverständnisse gleich zu Beginn aus dem Weg zu räumen: Putins Invasion ist ein Verbrechen. Nichts rechtfertigt sie. Gleichzeitig ist die westliche Hypokrisie Haarsträubend. Und es ist beunruhigend, was für gesellschaftliche Mechanismen die Invasion nun in Gang gesetzt hat. Der Russenhass ist auf dem Vormarsch.
Seither wird jegliche russische Perspektive lächerlich gemacht. Doch Scharfmacher gibt es auf beiden Seiten. Auch Putins proklamierte «Entnazifizierung» der Ukraine rechtfertigt keinen Angriffskrieg. Trotzdem ist es ein Fakt, dass nazistische Gruppierungen in der Ukraine ein Machtfaktor ausmachen.
An dieser Tatsache ändert sich auch dann nichts, wenn der Mainstream diese Gruppierungen lediglich als Randerscheinungen bezeichnet. Die Gruppierungen an sich sind zwar eine Minderheit, doch sie haben einen enormen Einfluss – nicht zuletzt, weil sie nach dem Putsch von 2014 die Regierung massgeblich «inkognito» infiltriert haben.
Zudem sind sie in leitenden Funktionen in den inneren Sicherheits- und Polizeikräften des Landes vertreten. Die meisten dieser Banden und Milizen waren in antisemitische Gewalttaten verwickelt. Das berüchtigte nazistische Azov-Regiment ist gar eine offizielle Einheit der ukrainischen Nationalgarde. Und im Jahre 2018 haben die neonazistische, paramilitärische Organisation C14 und die Stadtverwaltung von Kiew eine Vereinbarung unterzeichnet, die es der C14 erlaubt, eine «Stadtwache» einzurichten, die auf den Strassen patrouilliert.
Seit dem Putsch von 2014 haben Neonazi-Gruppierungen auch regelmässig Angriffe auf Romas verübt. Die ukrainischen Medien bezeichneten einen solchen Angriff wörtlich als «Zigeunerpogrom». Und seit 2014 terrorisieren und töten diese Gruppierungen zusammen mit der ukrainischen Armee die Bevölkerung in Donezk und Luhansk.
Die Russen sind die neuen Ungeimpften – oder gar die neuen Juden? Fast ein Jahrhundert nach den Rassengesetzen der Nazis wurde im Mai 2020 zum ersten Mal wieder ein Rassengesetz in Europa eingebracht – vom ukrainischen Präsidenten Selensky. «Das Gesetz teilt die Ukrainer nach völkischen Kriterien in Menschen erster und zweiter Klasse ein», titelte der in Russland lebende deutsche Journalist Thomas Röper.
Und Mitte Januar 2022 ist in der Ukraine ein 2019 verabschiedetes Gesetz in Kraft getreten, das die russische Sprache im öffentlichen Leben sowie im Verlagswesen massiv einschränkt und zum Teil faktisch verbietet. Wer dagegen verstösst, kann bei einer Art «Sprachpolizei» angezeigt und im Wiederholungsfall gebüsst werden.
Bezeichnend ist, dass im Dezember 2021 einzig die Ukraine und die USA gegen eine russische UN-Resolution stimmten, die sich gegen die Verherrlichung des Nazismus und andere Praktiken wendet, die zeitgenössische Formen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz verschärfen. Diese Resolution kommt jährlich zur Abstimmung, und die Ukraine und die USA stimmen regelmässig als einzige dagegen.
Rabbi Yehuda Teichtal sagte bezüglich jüdischer Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin, Deutschland hätte eine ganz besondere Rolle zu spielen: Es gebe keinen besseren Weg, um die dunkle Vergangenheit wiedergutzumachen, als den Flüchtigen eine positive, lebendige und fröhliche Zukunft in Deutschland zu sichern. Doch, ein besserer Weg wäre, auch keine Waffen an eine Regierung zu liefern, die mit Nazis kooperiert und massgeblich für den Krieg mitverantwortlich ist – und diese Regierung auch nicht zu unterstützen.
Die Propaganda um den Krieg treibt auch ausserhalb der Ukraine rassistische Blüten. In Deutschland wurden zum Beispiel 30 Busse eines Unternehmens zertrümmert; der Besitzer ist Russlanddeutscher. Russische Restaurants und Läden in Deutschland und in USA wurden beschädigt. Und im Tessin wurden Russen von wildfremden Menschen telefonisch beleidigt und bedroht.
Die Russophobie erreicht auch die Kulturbranche. Letzte Woche wurde der Russe Valery Gergiev von seinem Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker abberufen, weil er sich angeblich «nicht von seinem Freund Putin distanzieren will». Für die Neue Zürcher Zeitung kommt die Entlassung zu spät: sie nennt sie scheinheilig, denn seine Sympathien zu Putin seien schon lange bekannt gewesen. Zumindest gesteht die NZZ ein, dass die Entlassung arbeitsrechtlich fragwürdig ist.
Der russischen Opernsängerin Anna Netrebko wurde ebenfalls vorgeworfen, sich nicht genügend von Putin zu distanzieren – obwohl sie den Krieg in der Ukraine verurteilte. Daraufhin sagte sie ihre Auftritte am Teatro alla Scala in Mailand, an der Züricher Oper, in der Elbphilharmonie in Hamburg und in der Metropolitan Opera in New York ab.
Den Vogel abgeschossen hat allerdings die Mailänder Universität Bicocca. Als würde es nicht reichen, dass gewöhnliche Russen angegriffen werden, die rein gar nichts für den Krieg können – auch tote Russen sollen noch für ihr Nationalität büssen müssen. So hat die Mailänder Uni einen Kurs über Dostojewski vorerst annulliert, um dann aufgrund heftiger Kritik einen Rückzieher zu machen.
Wie lange noch, bis zum Tod lebender unschuldiger Russen aufgerufen wird?
Herzlich
Konstantin Demeter
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