09. September 2022 - Konstantin Demeter

Genug ist genug

Die Energiesanktionen schaden Europa mehr als Russland, eine Verschärfung würde also dem gesunden Menschenverstand völlig widersprechen. Péter Szijjártó

In manchen Ländern Europas protestieren die Menschen gegen ihre eigene Regierung. Sie prangern die Sanktionspolitik gegenüber Russland an, welche die Energiepreise in die Höhe treibt. In Schottland und in Italien verbrannten Demonstranten sogar Energierechnungen und signalisierten damit, dass sie diese Erhöhung nicht akzeptieren. Um 80 Prozent stiegen die Energiepreise in Grossbritannien in einem Jahr, um bis zu 200 Prozent in Italien.

Die Bewegung «Don’t Pay», die schon Anfang August eine Demonstration in Glasgow organisierte, fordert die Verbraucher in Grossbritannien auf, die Energierechnungen nicht mehr zu bezahlen.

«In dem Masse, in dem die Menschen miteinander reden und die Nachricht verbreiten, wird die Nichtzahlung zu einem gesellschaftlich akzeptierten Widerstand gegen die ungerechte und unfaire Preistreiberei der Energieunternehmen», erklärte Jeffrey James, Organisator von «Don’t Pay,» gegenüber Bloomberg.

Fast 170’000 Menschen hätten sich bisher verpflichtet, ihre Energierechnungen im Oktober nicht mehr zu bezahlen, und über 30’000 hätten sich schon für die Organisation von Treffen angemeldet.

Wie Bloomberg mitteilt, wurde die Bewegung während einer Gewerkschaftsdemonstration im Juni ins Leben gerufen und nahm Fahrt auf, nachdem Energieunternehmen wie Shell und Centrica, die fast ein Drittel der britischen Haushalte mit Gas und Strom versorgen, Rekordgewinne vermeldeten.

Mitte August stürmte eine Organisation mit dem Namen «Power To The People Glasgow» den Hauptsitz von Scottish Power, der sich im Besitz des spanischen Energieriesen Iberdrola SA befindet. Und die Bewegung «Enough is Enough» (Genug ist genug) ist dabei, eine Reihe von 50 Kundgebungen in ganz Grossbritannien zu realisieren.

In Italien wird «Don’t Pay» zu «Io non pago»: Etwa hundert neapolitanische Ladenbesitzer verbrannten letzten Freitag ihre letzten Strom- und Gasrechnungen vor dem zentralen Postamt, berichtet L’Indipendente. Und im ganzen Land gehen die Menschen auf die Strasse. Sie protestieren gegen die dramatische finanzielle Situation der Händler und Ladenbesitzer, die bereits durch die Covid-Massnahmen erschöpft sind. Das sei zu viel für die finanziellen Kapazitäten der kleinen und mittleren Unternehmen, so das Nachrichtenportal.

Eine weitere originelle Idee hatten Ladenbesitzer in Bergamo und Salerno: Sie hängten ihre Stromrechnungen im Schaufenster aus. «Die Menschen, die heute volle Bars und Restaurants sehen, sollen verstehen, welche Schwierigkeiten unsere Unternehmer durchmachen», erklärte Oscar Fusini, Direktor von Ascom Confcommercio Bergamo gegenüber L’Indipendente.


Energierechnung im Schaufenster eines römischen Restaurants. Quelle: la Repubblica

Diese Woche gibt es weitere Proteste in Italien. Unter anderem wird in 13 umbrischen Städten unter dem Motto «Schaltet Italien nicht aus, schaltet die Zukunft nicht aus» demonstriert. Die Proteste umfassen das Verbrennen von Energierechnungen und das nächtliche Ausschalten der Lichter in Schaufenstern und auf Schildern.

Byoblu ist indes der Ansicht, dass nicht Russland der Grund für die Preissteigerung für Gas ist, sondern die Amsterdamer Börse, die über den Gaspreis in Europa entscheide. Und diese gehöre einem amerikanischen Finanzunternehmen, «das den Preis nach spekulativen und politischen Mechanismen festlegt». Das italienische Energieunternehmen ENI selbst kaufe russisches Gas zu einem niedrigen Preis, verkaufe es aber zu einem hohen Preis gemäss den Amsterdamer Notierungen weiter.

«Ein echter Betrug an den Italienern, der von der Regierung Draghi gedeckt wird», konstatiert Byoblu.

In Köln gab es letztes Wochenende Proteste. Auch dort wurde ein Ende der Sanktionen gegen Russland gefordert – sowie die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nordstream 2. Ausserdem rechtfertigten die Demonstranten den Krieg in der Ukraine nach Angaben des WDR als «notwendige Selbstverteidigung Russlands». Gründe genug für das Mainstream-Medium, die unzufriedenen und besorgten Bürger als «pro-russisch» zu bezeichnen.

Zu allem Übel hat Russland nun gedroht, kein Gas mehr nach Westeuropa zu liefern, solange die Sanktionen nicht aufgehoben sind.

Last but not least: In Prag protestierten am Samstag nach Angaben der Polizei 70’000 Menschen gegen die Regierung. Vermutlich waren es wesentlich mehr. Die Regierung würde sich der EU und der NATO unterwerfen, kritisierten die Demonstranten.

Interessant dabei: Rechts- und linksextreme Kräfte sind in diesem Protest vereint, wie der Guardian berichtet. Das mag zum Teil die übliche Diffamierung regierungskritischer Menschen sein, doch Organisationen aus beiden Lagern haben die Demo mitorganisiert. Sie fordern ein neues Abkommen mit Moskau über Gaslieferungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch drängen sie die Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Petr Fiala zum Rücktritt.

Vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Menschen – wie zum Teil schon bei Protesten gegen die Covid-Massnahmen – die Sinnlosigkeit des Beharrens auf der links-rechts-Dichotomie langsam erkennen. Eine Sinnlosigkeit, auf die mein Kollege Rafael Lutz in seinem gestrigen und ich in einem früheren Newsletter hingewiesen haben. Denn der Feind steht weder rechts noch links, sondern ganz oben auf der Einkommensleiter.

Und wie geht es Russland, das ja durch die Sanktionen in die Knie gezwungen werden soll? Der Rubel hat seinen Kurseinbruch wieder wettgemacht. Der russische Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow korrigierte die Wirtschaftsprognose für 2022 von einem Rückgang von 4,2 auf 2,9 Prozent. Voraussichtlich werde die Wirtscahft Ende 2022 oder 2023 auf Quartalsbasis zum Wachstum zurückkehren. Und Gazprom meldete gerade einen Rekordgewinn von umgerechnet fast 42 Mrd. Euro.

Herzlich

Konstantin Demeter

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