Uns wird gelehrt, dass die Landwirtschaft der Startschuss zur Zivilisation war. Danach soll es nur noch bergauf gegangen sein: Wir würden sicherer, besser und länger leben – und netter miteinander umgehen. Der Übergang zur Landwirtschaft wird als natürliche Folge des Strebens danach angesehen – ein Entkommen aus einem schrecklichen und verzweifelten Leben.
Doch es gibt Hinweise dafür, dass die Landwirtschaft und die dazu benötigten staatlichen Strukturen aus einer unvorhergesehenen Not entstanden sind, womöglich klimatisch bedingt. Anfangs brachte das anscheinend eine Verbesserung der Lebensbedingungen, bevor sie sich verschlechterten. Doch als die klimatischen Bedingungen wieder günstiger wurden, konnten die Machtstrukturen nicht mehr abgeschafft werden.
In seinem Buch «Civilized to Death – The Price of Progress» stellt Christopher Ryan die These in den Raum, dass die Menschen in Jäger- und Sammlergesellschaften ohne Hierarchien generell gesünder und glücklicher waren als der «Techno Sapiens» – und nicht unbedingt weniger alt wurden, wenn sie das erste Lebensjahr überstanden.
Anthropologen hätten nahezu universelle Gemeinsamkeiten in deren Verhalten und sozialer Organisation festgestellt; dazu gehören Egalitarismus und Dankbarkeit. Die Zivilisation sei kein kühner Schritt in ein besseres Leben gewesen, sondern ein tragischer Fehltritt in ein Loch, das wir uns über Jahrhunderte immer tiefer gegraben haben. Ryan konstatiert:
«Unsere Spezies hat sich von einem Leben in der Welt zu einem Leben in einem von uns selbst geschaffenen Zoo entwickelt. Ohne zu verstehen, was geschah, wurden unsere Vorfahren ebenso domestiziert wie ihre Pflanzen und Tiere».
Ryan setzt den Fortschritt mit einer fortschreitenden Krankheit gleich. Doch er distanziert sich von Illusionen über «edle Wilde» oder der «Rückkehr in den Garten Eden». Soweit die Wilden edel sind oder jemals waren, sei dies auf das Gedeihen ihrer Gesellschaften durch die Förderung von Grosszügigkeit, Ehrlichkeit und gegenseitigem Respekt zurückzuführen – Werte, die konkrete, überlebenswichtige Gründe gehabt hätten, welche die Evolution durch sexuelle Selektion gefördert habe.
Der Forscher Nick Brooks sieht die Entwicklung der Zivilisation als «zufälliges Nebenprodukt einer ungeplanten Anpassung an einen katastrophalen Klimawandel».«Der schlimmste Fehler in der Geschichte der Menschheit», lautet hingegen der Titel eines Essays von Jared Diamond über den Übergang zur Landwirtschaft. Der Historiker Yuval Noah Harari bezeichnet ihn in seinem Buch «Sapiens: A Brief History of Humankind» gar als «den grössten Betrug der Geschichte»:
«Die landwirtschaftliche Revolution vergrösserte sicherlich die Summe der Nahrungsmittel, die der Menschheit zur Verfügung standen, aber die zusätzliche Nahrung führte nicht zu einer besseren Ernährung oder mehr Freizeit», schreibt er.
Die zusätzlichen Nahrungsmittel hätten, laut Harari, lediglich Bevölkerungsexplosionen angeheizt und Eliten verwöhnt. Bauern hätten in der Regel länger und härter arbeiteten müssen als Jäger – für minderwertigere Nahrung. Und sie seien mit einem drastischen Anstieg der sozialen Ungleichheit und mit organisierter Gewalt konfrontiert gewesen – sowie mit selbsternannten Eliten, die ihre Macht mit Hilfe der monotheistischen Religion festigten. Zu bemerken: Trotz dieser Erkenntnisse hat sich Harari in den letzten Jahren als Befürworter des Transhumanismus zu erkennen gegeben.
Dass niemand besonders erpicht darauf war, die Landwirtschaft zu übernehmen, ist Ryan zufolge durch deren langsame Verbreitung – im Gegensatz zu anderen Erneuerungen – archäologisch belegt. Auch waren Missionare, Entdecker und Anthropologen regelmässig verwirrt und enttäuscht, dass Eingeborene die Annehmlichkeiten und Zwänge der Zivilisation ablehnten. Und wenn sie dazu gezwungen wurden, kehrten sie bei erster Gelegenheit oft wieder zu ihrem vorherigen Lebensstil zurück.
Infolge des Glaubens, dass die menschliche Natur zu Bösartigkeit, Brutalität und Misstrauen neigt, wenn nicht «zivilisierende» Einflüsse autoritärer Institutionen entgegenwirken, verhalten wir uns gemäss Ryan oft wie die bösen Bestien, die wir zu sein glauben. Er erläutert:
«Um sich von Verhaltensweisen und Überzeugungen zu befreien, die den Konflikt zwischen unserer inneren und äusseren Natur aufrechterhalten, ist es unerlässlich, einen anderen Blick auf das Narrativ vom ewigen Fortschritt zu werfen. Dieses überbewertet die Vorteile der Zivilisation, während es viele ihrer Kosten ignoriert und selbst respektvolle Zweifel als Sakrileg abtut.»
Bisher ist jede komplexe Zivilisation zusammengebrochen, wenn auch ein paar nur vorübergehend. Im Gegensatz zu den vorherigen, ist die heutige allerdings global. «Jedes Mal, wenn sich die Geschichte wiederholt, steigt der Preis», meint der Historiker Ronald Wright dazu.
Unsere Zivilisation hat selbstverständlich auch viel Gutes hervorgebracht, doch der Preis war hoch und der Ausgang ist ungewiss. Und wer weiss, ob diese positiven Aspekte nicht auch in anderen Gesellschaftsstrukturen hätten gedeihen können – vielleicht sogar besser.
Es gibt jedenfalls kein Zurück, auch wenn wir falsch abgebogen sind. Doch wir können und müssen alternative Gemeinschaften und Netzwerke aufbauen, in denen Grosszügigkeit, Ehrlichkeit und gegenseitiger Respekt gepflegt werden. Beginnen müssen wir bei uns selbst – und zum Beispiel mit Graswurzle: Back to the roots.
Herzlich
Konstantin Demeter
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