03. September 2022 - Rafael Lutz

Die Wahrheit ist merkwürdiger als jede Erfindung

Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man seinen Nachbarn einsperrt. Fjodor Dostojewskij

Wir leben gegenwärtig in Zeiten grosser Umbrüche. Zeiten, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt; Gewissheiten werden auf einmal ungewiss; Etabliertes gilt plötzlich als rückständig und die Zukunft ist unsicher. In Zeiten der Veränderungen verlieren viele Menschen rasch den Kompass; sie wissen nicht mehr, was unten und was oben ist.

Doch das Schöne ist: Zeiten der Zäsur sind auch Zeiten der Offenbarung. Jetzt zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Auf einmal wird klar: «Das Schöne ist hässlich, das Reiche arm, das Schändliche herrlich, das Gelehrte ungelehrt», wie es Erasmus von Rotterdam schon wusste.

Warum erwähnte ich Erasmus? Auch er erlebte zu seinen Lebzeiten grosse gesellschaftliche Umwälzungen. Und einige seiner Schriften könnten aktueller nicht sein. Erasmus war Zeitzeuge der Reformation 1515. Im Schatten von Martin Luther, Johannes Calvin und weiteren Persönlichkeiten der Reformation spielte der grosse Humanist und Reformator damals eine wichtige Rolle.

Der Wegbereiter der europäischen Aufklärung war nicht bloss ein Gelehrter, sondern auch ein versierter Kritiker gegenüber den Herrschenden seiner Zeit. Erasmus verstand es geschickt, seine Kritik als Satire zu verpacken. In seinem Klassiker «Lob der Torheit» befasste er sich ausführlich mit der menschlichen Torheit – die Schrift erschien 1509, also nur wenige Jahre vor der Reformation.

Der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb in «Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam» dazu: «Zeitenkritik in Zeiten der Zensur und Inquisition durch Ironie und Symbole in die Welt zu schmuggeln, war von je der einzige Ausweg der Freigeistigen in den Epochen der Verdüsterung; selten aber hat jemand von diesem heiligen Narrenrecht der freien Rede geschickteren Gebrauch gemacht als Erasmus in dieser Satire, die das erste, das kühnste und zugleich künstlerischste Werk seiner Generation darstellt.»

Im «Lob der Torheit» bekam jeder und jede sein Fett weg – auch die weltlichen Herrscher blieben nicht verschont. Im Fokus steht die Weltenherrscherin Frau «Stultia» (lat. Torheit). Sie tritt im Gelehrtentalar auf, trägt jedoch auch eine Schalkskappe auf dem Kopf, als sie den Katheder besteigt und eine akademische Lobrede zu ihren Ehren hält. Sie allein sei es nämlich, rühmt sie sich, die mit ihren Dienerinnen, der Schmeichelei und der Selbstliebe, den Weltlauf in Gang hielte.

«Ohne mich ist im Leben kein Bund, keine Gemeinschaft angenehm noch dauernd, und zwar würde das Volk nicht lange seinen Fürsten, der Herr nicht seinen Diener, die Zofe nicht ihre gnädige Frau, der Lehrer nicht seinen Schüler, der Freund nicht seinen Freund, die Gattin nicht den Gatten, der Wirt nicht den Gast, der Gefährte nicht den Gefährten, kurz kein Mensch den anderen dulden, wenn sie sich nicht gegenseitig bald täuschten, bald einander schmeichelten und klug nachgäben, wenn schliesslich nicht alles durch eine Beigabe an Torheit gewürzt wäre.»

Haben diese Zeilen an Aktualität eingebüsst? Ich überlasse die Antwort Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Besonders scharf zündete Erasmus in seinem satirischen Pamphlet auch gegen die Kaste der Akademiker seiner Zeit. Erasmus reservierte in seiner Narrenrunde einen breiten Platz für die gelehrte Welt: nach den Grammatikern kommen die Dichter, die Rhetoren und die Schriftsteller, danach die Juristen, hinter ihnen laufen die «durch Bart und Mantel ehrwürdig gemachten Philosophen»; schliesslich die enggedrängte und zahlenstarke Gruppe der Theologen.

Besonders lesenswert sind die Zeilen des Humanisten gerade auch vor dem Hintergrund der heute vielfach vorherrschenden Wissenschaftsgläubigkeit, die innerhalb der Politik vorherrscht, wo ständig vom «Konsens der Wissenschaft» die Rede ist. Denn Erasmus wusste schon damals: Das Wissen wird durch den Exzess der falschen Wissenschaften selbst zum Wahnsinn.

Auch stand für den Humanisten fest: Torheit und Wahnsinn zeigen sich überall. Man brauche nur ein Auge auf selbst die weisesten und bestregierten Städte zu werfen. «Er (der Wahnsinn, Anm. des Verf.) zeigt sich allerorten in so vielerley Gestalten der Narrheit, täglich sinnt er diesorts so viele Moden aus, dass tausend Demokritusse nicht zureichend wären, sie gebührend zu belachen.»

Willkommen im Jahr 2022! Das Schöne an den Klassikern der Weltliteratur ist: Ihre Erkenntnisse überleben die Jahrhunderte. Das kann von Lauterbach und Konsorten heute wohl kaum gesagt werden, auch wenn sich der SPD-Gesundheitsminister selbst als Wissenschaftler sieht. Blaise Pascal sagte einst: «Die Menschen sind so notwendig verrückt, dass nicht verrückt sein nur hiesse, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.» Ich denke, er hat recht.

Herzlich

Rafael Lutz

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