27. November 2021 - Christoph Pfluger

Wir haben alles gegeben – und trotzdem wird noch mehr gefordert

Denn das Ministerium von Alain Berset hat vorgesorgt, dass weiterhin gestritten werden muss. Es behauptet nämlich, dass das Covid-19-Gesetz bei einer Ablehnung noch bis März nächsten Jahres in Kraft bleibt.

Am Sonntag zeigt sich, wie die Würfel gefallen sind. Wir sind gleichzeitig müde und gespannt. Wir sind müde von einem Kampf gegen einen Gegner, der trotz seiner haushohen Überlegenheit ziemlich fiese Tricks anwenden musste. Und wir sind gespannt, ob es ihm gelungen ist, den Souverän zu überlisten.

Ich würde mich vorsichtshalber auf eine Niederlage einstellen. Das hat ein paar entscheidende Vorteile:

Erstens können wir am Sonntag nicht enttäuscht werden.
Zweitens haben wir mehr Zeit, aus der Niederlage zu lernen.
Drittens geht es am Montag ohnehin weiter, egal ob wir gewinnen oder verlieren.

Denn das Ministerium von Alain Berset hat vorgesorgt, dass weiterhin gestritten werden muss. Es behauptet nämlich, dass das Covid-19-Gesetz bei einer Ablehnung noch bis März nächsten Jahres in Kraft bleibt.

Es begründet dies mit Art. 165 der Bundesverfassung, der Folgendes bestimmt:

«Wird zu einem dringlich erklärten Bundesgesetz die Volksabstimmung verlangt, so tritt dieses ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist vom Volk angenommen wird.»

Erstens macht der Artikel keine Aussage zum Fall einer Ablehnung. Zweitens sind dringliche Bundesgesetze zeitlich beschränkt; sie treten automatisch ausser Kraft, wenn sie nicht verlängert werden. So gesehen müsste man gar keine Abstimmungen über dringliche Bundesgesetze abhalten.

Der Sinn des Artikel erschliesst sich durch seinen Zweck: Er will verhindern, dass durch die Verschleppung einer Abstimmung die Gültigkeit eines Gesetzes stillschweigend am Volk vorbeigemogelt werden kann. Und er gibt dem Bundesrat keineswegs die Kompetenz, sich noch ein paar Monate über den Willen des Souveräns hinwegzusetzen.

Vielleicht langweilen Sie solche juristischen Details. Aber sie sind von grösster Brisanz und haben das Zeug zur Staatskrise. Denn es gibt keine Instanz zur Entscheidung der Frage nach der Gültigkeitsdauer abgelehnter dringlicher Bundesgesetze.

Theoretisch hat das Parlament die Oberaufsicht über die Regierung (Art. 169). Nur: Das Parlament hat das verfassungswidrige Gesetz mehrmals durchgewinkt. Von ihm ist kein Bewusstsein über begangene Fehler und schon gar keine Umkehr zu erwarten. Politik hat vor allem mit recht haben zu tun.

Auch bei einem Ja hat das Volk seine verfassungsmässige Souveränität noch längst nicht zurückgewonnen.

Zudem beginnt am 29. November die Wintersession, bei der die Verlängerung des Covid-19-Gesetzes bis 31. Dezember 2022 traktandiert ist. Auch diese hat das Zeug zu einer Staatskrise, zu deren Beilegung die Schweiz institutionell nicht gerüstet ist.

Gemäss Art. 141 unterstehen nur dringliche Bundesgesetze dem fakultativen Referendum, deren Gültigkeitsdauer ein Jahr übersteigt. Die vom Bundesrat beantragte Verlängerung beträgt aber exakt ein Jahr. Ein Tag länger, und der Fall wäre klar.

Auch wenn die Verfassung die Möglichkeit eines Referendums nicht vorsieht, muss es ergriffen werden. Denn erstens ist das Gesetz in seiner Gesamtheit länger als ein Jahr gültig. Und zweitens kann es nicht Sinn dieser Verfassungsbestimmung sein, dass dringliche Bundesgesetze in Jahresportionen am Souverän vorbeigeschmuggelt werden.

Sie sehen: Wie immer das Resultat am Sonntag ausfällt, das Spiel geht weiter. Das Wort «Spiel» ist mit Absicht anstelle von «Kampf» gewählt. Denn wer kämpft, erschöpft sich. Wer dagegen spielt, lernt, auch wenn er verliert. Und wer länger lernt, wird schlussendlich gewinnen.

Diese Worte sollen nicht beruhigen, auch wenn sie das hoffentlich tun. Sie sollen vor allem anregen, das Bewusstsein für die Krise in Bewegung zu bringen, den Verstand zu schärfen und den Geist zu lockern. Wenn uns das gelingt und wenn wir andere damit anstecken können, dann werden wir unser Ziel erreichen. Hundertprozentig. Auch wenn wir am Sonntag weniger als 50 Prozent erreichen.

Christoph Pfluger

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